Literaturnobelpreis 1919: Carl Spitteler

Literaturnobelpreis 1919: Carl Spitteler
Literaturnobelpreis 1919: Carl Spitteler
 
Der Schweizer Autor erhielt den Nobelpreis besonders im Hinblick auf sein mächtiges Epos »Olympischer Frühling«.
 
 
Carl Georg Friedrich Spitteler, * Liestal (Kanton Basel) 24. 4. 1845, ✝ Luzern 29. 12. 1924; 1860-62 Pädagogium in Basel, 1863-70 Studium der Rechtswissenschaften und Theologie in Basel, Zürich und Heidelberg, 1871-79 Hauslehrer in Finnland, Russland und der Schweiz, 1885-92 Journalist in der Schweiz, ab 1892 freier Schriftsteller in Luzern.
 
 Würdigung der preisgekrönten Leistung
 
Nachdem sein 20 000 Verse umfassendes Epos »Olympischer Frühling« erst in seiner endgültigen Fassung von 1909/10 in der Schweiz zu Ruhm gelangt war, musste Spitteler das Ende des Ersten Weltkriegs abwarten, bis er 1920 den Nobelpreis für 1919 zugesprochen bekam. Bereits 1913 stand er auf der Liste der Kandidaten und sollte den Preis 1914 tatsächlich erhalten. In diesem Jahr wurde jedoch in allen Gebieten auf eine Verleihung des Nobelpreises verzichtet.
 
 Neutralität und Nationalismus
 
Im Gutachten von 1914 forderte der Vorsitzende des Nobelkomitees, Harald Hjärne, einen Dichter zu ehren, dem es gelänge, die »allgemeinen menschlichen Ziele« in »nationalen Formen und Stoffen« auszudrücken. Der Preisträger solle die historische Einheit der abendländischen Kultur gegenüber den »sinnlosen Kämpfen« der Zeit geltend machen. Der Vertreter einer europäischen Nationalität schien im Schweizer Carl Spitteler gefunden. Nach dem Verzicht auf die Verleihung im Jahr 1914 wollte das Komitee 1915 Spitteler den Preis nachträglich zusprechen. Der Schriftsteller hatte sich jedoch in einer Rede über den »Schweizer Standpunkt« politisch zu sehr exponiert, indem er den Einmarsch in Belgien verurteilt und für die Neutralität der Schweiz plädiert hatte. Die Rede wurde in Deutschland und Österreich als Affront aufgefasst. Daher riet das Gutachten dieses Jahrs von Spitteler ab. Ausdrücklich waren es also politische Gründe, nicht ästhetische, die 1915 zu einem erneuten Verzicht auf die Verleihung führten.
 
Die politischen Bedenken waren 1919 noch nicht vom Tisch, sodass Spitteler dem Schweden Erik Axel Karlfeldt den Vortritt lassen musste. Dieser verweigerte als Sekretär der Akademie jedoch die Annahme des Preises (er bekam ihn posthum 1931). 1920 konnte das Komitee seine politischen Skrupel begraben und Spitteler den Preis zuerkennen. Der Zeitpunkt war insofern nicht verspätet, als Spittelers Popularität seit seiner ersten Anwartschaft auf den Nobelpreis gewachsen war. Im Mittelpunkt der Preisverleihungszeremonie, der Spitteler wegen Krankheit nicht persönlich beiwohnen konnte, stand immer noch dasselbe Werk, »Olympischer Frühling«, das bis 1920 in mehreren Auflagen gedruckt worden war. Auch die Begründung hatte sich kaum verändert: Die künstlerische Sprachform, unabhängige Weltsicht und Idealismus waren für Hjärne die hervorstechenden Merkmale von Spittelers Dichtung.
 
 Held und Masse
 
In der ersten Hälfte des Jahrs 1862 hatte Spitteler im Zusammenhang mit der Niederschrift von Aphorismen über die »Würde des Menschen« beschlossen, Philosoph zu werden. Den Entschluss änderte er bereits im Herbst desselben Jahrs. Obgleich er auch in Malerei und Musik talentiert war, entschied er sich dafür, Dichter zu werden. Als er 1866 die klassischen Epen las, verengte sich sein Ziel: »Ein Epiker mochte ich sein.« Etwa zu diesem Zeitpunkt begann er, an seinem ersten bedeutenden Werk zu arbeiten, »Prometheus und Epimetheus«, das er 1881 auf eigene Kosten unter dem Pseudonym Carl Felix Tandem veröffentlichte. Gegenstand des Epos ist ein Hauptthema Spittelers: der tragische Kampf des heldenhaften Individuums gegen den sittlichen Verfall der modernen Welt. Es entwickelt den Mythos des Helden, der gegenüber der charakterlosen Masse einsam um Wahrheit ringt. Mit der Gegenwartskultur wie auch der christlichen Tradition sollte der freie, aber sittlich handelnde Mensch nach dem Vorbild der griechischen Helden kontrastiert werden.
 
Spittelers pessimistische Beurteilung der Moderne war unter anderem von Schopenhauer sowie seinem Gymnasiallehrer Jacob Burckhardt beeinflusst. Mit diesem pflegte er zeit seines Lebens Kontakt. Er erinnerte sich zwar ungern an seine Schulzeit, in der Burckhardt seinen Stolz durch Ablehnung gekränkt hatte, war ihm aber für seine Lehren dankbar. Der spätere Leser denkt bei der Lektüre von »Prometheus und Epimetheus« sicher zuerst an Friedrich Nietzsches »Also sprach Zarathustra«. Beide Werke ähneln einander in ihrer Stoßrichtung wie auch in ihrer rhythmischen Prosa und ihren Bildern. Spitteler, der als Journalist einige von Nietzsches Werken rezensierte und lobend würdigte, distanzierte sich jedoch klar von ihm als Dichter.
 
Spittelers zweites, mit vier Bänden weit umfangreicheres Epos »Olympischer Frühling«, das zuerst 1900-04 erschien, behandelt ein ähnliches Thema wie sein erstes. Hier verkörpert Herakles das Ideal des heldenhaften Individuums. Er taucht nach einer Reihe neuer Götter aus der Unterwelt auf, um dem unmoralischen Treiben der alten Götter und Menschen zu trotzen. Angesichts der Unzulänglichkeit der Menschen, die sich im Reich zwischen den letztlich sittlichen Göttern und den blinden Mächten der Natur einrichten sollten, ist seine Mission zum tragischen Scheitern verurteilt. Die Handlung ist Teil eines gigantischen fantastischen Weltentwurfs, der in eindrucksvollen Bildern und Symbolen vorgetragen wird. Spitteler entwirft wie Nietzsche eine Weltsicht, die nur aus ihrer Frontstellung gegen die Strömungen der Zeit heraus verständlich wird und in ihrer Umsetzung eigenständig ist. Gerade das hob Hjärne in seiner Laudatio hervor. Spitteler sollte dafür belohnt werden, dass er eine antiaufklärerische, unmoderne und idealistische Position bezog, die er in ebenso unzeitgemäßer Form meisterhaft zum Ausdruck brachte.
 
 Mythos und Psychoanalyse
 
Es ist kaum verwunderlich, dass Spittelers Werke ein ähnlich motiviertes Publikum fanden wie die Nietzsches. Neben dem Fortschrittsglauben hatte sich der Kulturpessimismus ausgebreitet. In diesem Zusammenhang wurde die deutende Erforschung des Menschen entwickelt. Zwischen seinen beiden Epen schrieb Spitteler zwei bedeutende Prosawerke, »Conrad der Leutnant« (1898) und »Imago« (1906), die jeweils eine psychologische Problematik behandeln. Das letztgenannte Werk hat stark autobiografische Züge: »Seit vierzehn Monaten schaffe ich unselig etwas Unseliges: ein Prosabekenntnis: die Liebesgeschichte des Felix Tandem in dem Jahre, als er den »Prometheus« schrieb«, heißt es in einem Brief von 1905.
 
Heute ist Spitteler außerhalb der Schweiz in Vergessenheit geraten. Neben deutschsprachigen Zeitgenossen wie Rilke oder Kafka wirkt sein Name eher unbedeutend. Er schien jedoch das Bedürfnis der Akademiemitglieder, einen den kleineren, politisch neutralen Nationen zugehörigen und nach Nobels Forderung »idealistischen« Dichter zu ehren, besonders gut zu befriedigen.
 
B. Rehbein

Universal-Lexikon. 2012.

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